Live aus Aix-en-Provence, Carmen von Bizet

Foto: © ARTE France/Vincent Pontet
Foto: © ARTE France/Vincent Pontet

Arte, 06.07.2017, 2015-23:15 Uhr
Die Inszenierungen des Russen Dmitri Tcherniakov tragen eine ganz eigene Handschrift: Wenn Dmitri Tcherniakov beim Festival von Aix-en-Provence 2017 zum ersten Mal Bizets »Carmen« inszeniert, darf man wieder mit einer sehr originellen Lesart rechnen. Um die im Libretto etwas klischeehaft gezeichneten Figuren stärker greifbar zu machen, erzählt Tcherniakov Carmens Geschichte aus der Perspektive von Don José. Damit knüpft er an die literarische Vorlage von Prosper Mérimée an. Don José und Micaëla sind einander versprochen, doch wie gleich zu Beginn deutlich wird, begehrt er sie nicht mehr. Deshalb bringt ihn Micaëla zu einer Therapie, bei der mit Rollenspielen versucht wird, die Libido des Soldaten wieder zu erwecken. Das Geschehen spielt an einem einzigen weitläufigen Schauplatz: Der Raum ist mit Fenstern und Eingängen versehen, die im ersten Stock auf eine Galerie führen. An diesem Ort spielen sich die Garnisonsszenen, der Flirt mit den Arbeiterinnen in der Zigarettenfabrik und vor allem der Auftritt der erotischen Carmen ab. Alle Szenen des Stücks erscheinen imaginär, und auch Carmen ist als fiktive Figur angelegt, die versuchen soll, Don José mit ihren Verführungskünsten und Tänzen zu heilen. Aber dieser versteht nicht, dass ihm diese Szenen nur vorgespielt werden, und entbrennt in ungezügelter Leidenschaft für Carmen. Durch seine Eifersucht und Aggressivität wird aus dem Spiel bitterer Ernst, bis es zum tragischen Ende kommt. Aber vielleicht ist ja auch der Showdown nur Fiktion …
Diese originelle Auslegung von »Carmen« verleiht den beiden Figuren Micaëla und Escamillo eine besondere dramaturgische Tiefe. Dmitri Tcherniakov knüpft in seiner Inszenierung auch an die Faszination an, die viele französische Künstler und Zuschauer im 19. und frühen 20. Jahrhundert für Spanien hegten. Tcherniakov arbeitet mit sehr realistischen Bildern, Untertiteln und Zitaten aus Filmen. Dabei sind seine Operninszenierungen nie ganz textgetreu in Szene gesetzt, denn es kommt ihm vor allem darauf an, dem Publikum Figuren und Situationen glaubhaft nahezubringen.
Orchestre de Paris, Pablo Heras-Casado
Choeur Aedes, Maîtrise des Bouches-du-Rhône
Stéphanie d’Oustrac (Carmen), Michael Fabiano (Don José), Elsa Dreisig (Micaëla), Michael Todd Simpson (Escamillo), Gabrielle Philiponet (Frasquita), Virginie Verrez (Mercédès), Christian Helmer (Zuniga), Pierre Doyen (Moralès), Guillaume Andrieux (Le Dancaïre), Mathias Vidal (Le Remendado)

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